Der Engel mit den großen Füßen

Andacht für das Langenhagener ECHO am 17.10.20 von Pastor Rainer Müller-Jödicke

Sie ist nun in eine Seniorenanalage umgezogen. Ihr großes Haus hat sie leer geräumt und verkauft, viele Möbel verschenkt und Jahrzehnte alte Akten geschreddert. Nur das wichtigste hat sie in ihre neue Zwei-Zimmer-Wohnung mitgenommen: natürlich ihr Bett und den Lesesessel, sowie den Küchentisch und ihren Bücherschrank. – Und ein Bild!

Ich bestaune den prächtigen großen Rahmen, der das kleine Bild umfasst und seinen Wert hervorhebt. Es hängt im Schlafzimmer über ihrem Bett, so dass sie es auch dann vor Augen hat, wenn es ihr nicht gut geht. „Ist das ein echter Matisse?“, überlege ich und erinnere mich an Kunstdrucke mit kindlich wirkenden und zugleich genialen Malereien.

Ihre Tochter habe es gemalt, als sie neun war, erzählt sie mir dann. Ich erkenne einen kräftigen Engel mit klaren Augen und einem zuversichtlich lächelnden Mund. „Das wichtigste sind die Füße“, erklärt sie mir dann. So bestaune ich die überdimensionalen Füße, die in ihren Proportionen ein bisschen zu groß und zu stark geraten sind für den Engel. „Warum hat sie die Füße so groß gemalt“, will ich von ihr wissen.

Dann setzen wir uns an den Tisch und sie erzählt aus ihrem langen Leben, vor allem von der Krise in der Familie, als vor langer Zeit alles über sie herein brach. Ihr Mann war ganz plötzlich gestorben, so dass sie allein dastand mit der Neunjährigen und den anderen Kindern sowie mit ihrer Verantwortung für die kleine Firma.

„Da brauchte ich wirklich einen Engel, der mir hilft – und zwar einen Engel mit besonders großen Füßen“, erklärt sie mir dann: „Mein Engel hat so große Füße, damit er ganz schnell herbei kommen und mir helfen kann. Und außerdem hat meine Tochter immer gesagt: ,Mit den großen Füßen tritt dein Engel ordentlich was weg!´“

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