Sich beten

Andacht für das Langenhagener ECHO am 25.08.18 von Pastor Rainer Müller-Jödicke

Fasziniert stehe ich vor der Klagemauer. Mitten in Jerusalem beten die Juden hier seit Jahrtausenden. Neugierig folge ich einem Mann im schwarzen Anzug und mit großem schwarzem Hut. Unter dem Arm trägt er ein hebräisches Gebetbuch, das er direkt an der Mauer auf eine Art Notenständer legt. Wie die meisten anderen Männer beginnt er nicht nur zu lesen, sondern auch zu wippen. In regelmäßigem Takt beugt er immer und immer wieder seinen Oberkörper leicht nach vorn über das Buch.

Ein Kollege, der sich lange mit Israel beschäftigt hat, hat mich an diesen besonderen Ort geführt. Viele kennen dieses jüdische Heiligtum aus der Tagesschau, weil hier nicht nur Juden, sondern auch prominente Staatsgäste gern kleine Gebetszettelchen in die Ritzen der Mauer stecken. Das ist genauso ein Gebet wie das, was die die zehn jungen Soldaten gemeinsam sprechen, die sich ein paar Meter weiter im Kreis aufgestellt haben. Hier wird sehr vielfältig gebetet.

 „Warum wippt der Mann so beim Beten?“, frage ich meinen Kollegen. Und dann erklärt er mir, dass die hebräische Vokabel für „beten“ eigentlich mit „sich beten“ übersetzt werden müsse. Dabei fällt mir ein, dass die Grammatik solche Formen als reflexiv bezeichnet. Im Deutschen kennen wir das bei einigen Verben auch: Es heißt bei uns „sich erinnern“ und „sich durchsetzen“ sowie „sich aneignen“.

All diesen besonderen Verben ist gemein, dass die beschriebene Tätigkeit besonders eng mit einem selbst zu tun hat. Wer sich erinnert, der kramt in den gesamten Erinnerungen seines Lebens herum. Wer sich durchsetzen will, muss seine ganze Kraft aufbringen. Wer sich Wissen aneignet, der tut das aus großem persönlichem Interesse.

„So ist das für die hebräische Sprache auch mit dem Beten“, erklärt mir mein Kollege und fährt fort: „Wenn die Juden beten, dann wollen sie das richtig tun und mit ganzem Geist und Verstand an Gott denken, mit ihrer ganzen Person, so dass das sogar körperlich spürbar ist.

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